Ernährung als kulturwissenschaftliches Thema
Hinter dem Begriff „Ernährung“ verbirgt sich nicht nur die reine Aufnahme von Nährstoffen zur physiologischen Aufrechterhaltung des Körpers, sondern ebenfalls eine komplexe kulturelle Praxis, die an soziale, emotionale, religiöse und z. T. auch politische Muster gebunden ist. Die Analyse historisch und diskursiv konstruierter Esskulturen (vgl. Ott 2020: 23) zeigt auf, dass „kulturelle, soziale und persönliche Identität über das Essen ausgestaltet“ (DGE o. J.) wird. Die Ernährung gilt als wichtiger Faktor für die Konstitution, Regulation und Repräsentation von Identität und Subjektivität (vgl. Paulitz & Winter 2019: 319), da sich über die Untersuchung von Esskulturen vielschichtige soziokulturelle Dimensionen und Prozesse erschließen (vgl. ebd.: 321). Doch trotz dieser Relevanz und „entgegen [ihres] Potenzials auch für weiterreichende sozialtheoretische Fragestellungen“ (ebd.: 320) fristet die Ernährung als Gegenstand der geisteswissenschaftlichen Forschung „immer noch ein eher peripheres Dasein“ (Rinderle 2020: 138), obgleich die Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis „Ernährung – Identität“ seit den 1980er Jahren in Form von Food Studies auch in den Kultur- und Literaturwissenschaften zunehmend Interesse geweckt hat (vgl. Ott 2020: 45).
Vor dem Hintergrund der aufgezeigten kulturwissenschaftlichen Relevanz von Ernährung widmet sich der vorliegende Artikel der Fragestellung, welchen Beitrag die Esskultur(-en) im Beneluxraum zur Schaffung einer (trans-)nationalen und (trans-)kulturellen Identitätskonstruktion leisten und welche Dimensionen in diesem Aushandlungsprozess auf historischer, sozialer und globaler Ebene von Bedeutung sind. Um diese Überlegungen nachvollziehbar aufzuzeigen, steht zunächst im Fokus, grundlegende gastrosophische Erkenntnisse darzulegen, um einerseits die Bedeutung der Ernährung für die individuelle und kollektive Identität auszuloten, und andererseits zentrale Aspekte des aktuellen ernährungssoziologischen Diskurses, die sich auf Themenbereiche wie (Post-)Kolonialismus, kulturelle Aneignung und Globalisierung beziehen, zu skizzieren. In einem weiteren Schritt werden die nationalen Ernährungsspezifika in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg vorgestellt, um dann den Beneluxraum vor dem Hintergrund der aufgezeigten aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskussionen in den Blick zu nehmen. In diesem Zusammenhang werden sowohl die kolonialistische Vergangenheit der drei Benelux-Länder als auch eine übereinstimmende Beanspruchung von Gerichten als Aspekte einer gemeinsamen ernährungsassoziierten Identität betrachtet. Abschließend werden die Ergebnisse der Analyse mit dem Potential kulinarischer Begegnungen zur kultursensiblen Ernährung in Beziehung gesetzt.
Theoretischer Rahmen: Gastrosophische Grundannahmen
Der Einfluss der Ernährung auf die individuelle und kollektive Identität
Um die Rolle der Ernährung für die individuelle und kollektive Identität einordnen zu können, bedarf es einer kurzen vergleichenden Definition dieses Begriffspaares: Trotz des alltäglichen Gebrauches des Wortes Identität herrscht eine allgemeine Unklarheit über die Bedeutung des Begriffes vor (vgl. Zimmermann 1992: 76). Dies ist nicht zuletzt auf die Tatsache zurückzuführen, dass seine Bedeutung je nach „wissenschaftlichen Disziplinen Verschiedenes meint“ (ebd.). Grundsätzlich weist der Begriff ‚Identität‘ sowohl eine innere, persönliche als auch eine äußerliche Komponente auf, die in engem Kontakt mit der Außenwelt eines Individuums steht (vgl. ebd.: 77). Die individuelle Identität unterliegt der Würdigung und Nicht-Würdigung durch das gesellschaftliche Umfeld, während man aus seiner eigenen Individualidentität heraus ebenso die Individualidentitäten anderer Mitglieder des Kollektivs würdigt oder auch nicht (vgl. ebd.: 82). Auf Basis dieser Unterscheidung kann geschlussfolgert werden, dass das Begriffspaar „‚kollektive Identität‘ […] untrennbar mit dem Thema ‚personale Identität‘ verwoben [ist], weil der Mensch seine Personalität nur über Strukturen von Kollektivität ausdrücken […] kann“ (Erchinger 2010: 24). Doch auch wenn sich Identität nur „in der [kollektiven] Vermittlung durch Kultur verwirklichen“ (ebd.: 24) kann, ist sie nicht an eine Kultur gebunden, da sie im „Übergang zwischen dem, was sie aktuell ist und dem, was sie potentiell sein kann“ (ebd.: 25), zu verorten ist. Mehrere Kulturen können daher je nach politischen, gesellschaftlichen und/oder historischen Impulsen sowie als Ergebnis von umfassenden Dialogen in einer transkulturellen Identität münden.
Vor dem Hintergrund der aufgeführten Unterscheidung von individueller und kollektiver Identität ist es für eine Studie, die den Einfluss von Ernährung auf die Konstruktion von Identität untersuchen möchte, unerlässlich, sowohl die individuellen als auch kollektiven „Ernährungsgewohnheiten und Speisevorschriften“ (Ott 2020: 24) zu analysieren, worunter konkret die „Techniken und Traditionen des Beschaffens, Konservierens und Zubereitens von Nahrung, mit Regeln und Ritualen des Verzehrs“ (ebd.) fallen. Die Verbindung zwischen Nahrungsaufnahme und Identität setzt ebenfalls voraus, die daraus resultierenden „Konzeptionen des Zusammenhangs von Körper und Geist“ (ebd.) als Konsequenz des Einflusses der Ernährung auf die individuelle und kollektive Identität zu deuten.
Auf individueller Ebene stellt die Ernährung bereits ab dem frühen Kindesalter einen „identitätsstiftenden Akt“ (Rinderle 2020: 138) dar, da das Individuum frühzeitig lernt, dass die „Nahrungsaufnahme von Geburt an eine Notwendigkeit“ (ebd.) ist und bis zum Lebensende eine tägliche Konstante bildet. Je nach biographisch individueller bzw. familiärer Prägung kommen gewissen Lebensmitteln oder Gerichten Gefühle wie Nostalgie, Freude oder Sehnsucht zu (vgl. ebd.: 139), wodurch sie eine wirkmächtige Symbolhaftigkeit aufweisen, die einen wichtigen Teil der Identität des Individuums ausmachen. Von Mensch zu Mensch entwickelt sich auf diese Weise ein individuelles ernährungsassoziiertes Wertesystem, das von Norm- und Normalitätsempfindungen geprägt ist (vgl. DGE o. J.).

Diese individuelle ernährungsassoziierte Identität ergibt sich jedoch nie losgelöst von der Gesellschaft, sondern ist stets in ein Kollektiv eingebettet. Essen ist ein soziales Kulturphänomen (vgl. Lillge & Meyer 2008: 14), das von spezifischen „Entwicklung[en] des Mahlzeitenmotivs, […] Inszenierungen von Tischgesprächen und Gastlichkeit […] [und] Wechselwirkungen zwischen […] Speisen und Gesellschaft“ (ebd.) geformt wird. Das Bündel all dieser kollektivgebundenen Regeln, Werte und Prozesse ergeben eine Esskultur, die das Miteinander auf täglicher Basis mitbestimmt und dadurch zu einem Teil der kollektiven Identität wird. Die einzelnen Individuen reihen sich folglich mit ihren individuellen Ernährungsidentitäten in eine „(Ess-)Gemeinschaft“ (Rinderle 2020: 139) ein, deren Regeln sie beachten und in ihre ernährungsbezogenen Weltvorstellungen und -perzeptionen integrieren müssen. Erfolgt diese Anknüpfung an eine kollektive Essidentität nicht, werden „‚Andersessende‘ durch kulturell kodierte Mechanismen wie Tischmanieren oder durch Geschmack automatisch ausgeschlossen“ (ebd.).
Esskulturen setzen sich infolgedessen aus „materialen, sozialen und mentalen Dimensionen“ (Lillge & Meyer 2008: 15) zusammen, die einen „prozesshaften und dialogischen Kulturbegriff“ (Gutjahr 2002: 352, zitiert nach Lillge & Meyer 2008: 15) voraussetzen. Diese Erkenntnis, dass Esskulturen sich diskursiv im Austausch ausgestalten und sich in einem fortlaufenden Entwicklungsprozess befinden, zeigt auf, dass soziale und historische Variablen die Esskultur maßgeblich bestimmen. Für die in diesem Artikel angestrebte Darstellung kulinarischer Aushandlungsprozesse und Identitätskonstruktionen im Beneluxraum ergibt sich aus den vorangehenden Überlegungen die Notwendigkeit, den ernährungsidentitären Wandel in diesem Kulturraum zu untersuchen. Hierzu werden zentrale Vektoren für die Ausgestaltung einer gemeinsamen kulinarischen Identitätskonstruktion in den Blick genommen.
Esskulturen in Zeiten von (Post-)Kolonialismus, kultureller Aneignung und Globalisierung – eine kultursoziologische Perspektive
Zeit ist ein der Ernährung inhärenter Bezugspunkt, sei es in Form von Garzeiten, Ruhezeiten oder üblichen Essenszeiten (vgl. Lillge 2008: 297). Doch auch der historische Wandel von Esskulturen durch veränderliche soziokulturelle Paradigmen und Diskurse bestimmen die zeitliche Dimension der Ernährung maßgeblich mit.
Wirft man beispielsweise einen Blick in die Vergangenheit der Esskulturen von Ländern mit Kolonialgeschichte, so fällt auf, dass sie Elemente der Esskulturen der Kolonien in ihre eigenen integrierten und diese Rezeption vielfach bis in die Gegenwart reicht. Der Zusammenhang zwischen Ernährung und Imperialismus umfasst in diesem Kontext einen komplexen Wissenstransfer über „Erzeugung, Verarbeitung und Zubereitung von [zuvor unbekannten] Lebensmitteln“ (Paulitz & Winter 2019: 325f.). Diese Transferprozesse implizieren zudem stets einen wesentlichen Beitrag zum wirtschaftlichen Wachstum der Kolonialmächte, z. B. durch den Gewürzhandel. Ein prominentes Beispiel für eine umfassende Adaptation von kolonialen Esskulturen bietet das Essverhalten der britischen Gesellschaft. Die Aneignung der indischen Küche und die Eingliederung traditioneller indischer (jedoch z. T. auch nachträglich angepasster) Gerichte in die britische Küche trug „zur Formierung und Repräsentation von [weißen britischen] Identitäten“ (Tönnies 2008: 338) bei. Folglich wird die Übernahme von Malzeiten als „die direkteste Möglichkeit [an]gesehen, eine andere Kultur (buchstäblich) in sich aufzunehmen“ (ebd.: 339). Diese (ess-)kulturelle Aneignung bezieht sich keineswegs nur auf die Epoche der Kolonialzeit, sondern spielt offenkundig auch in den postkolonialistischen Esskulturen vieler ehemaliger Kolonialmächte weiterhin eine zentrale Rolle. Ihre Esskulturen weisen die beschriebene ethnisch-kulinarische Inkorporierung vielfach immer noch auf.
Neben diesen aktuellen Tendenzen spielt noch ein weiterer Faktor eine bedeutende Rolle, der die Ausrichtung nahezu aller Esskulturen in eine gemeinsame Richtung maßgeblich bedingt: die Globalisierung. Esskulturen waren in der Vormoderne durch tief verankerte Normvorstellungen und gesellschaftliche Rahmungen in sich stabil, wodurch auch die darauf basierenden Identitätskonzepte selten durch sprunghafte Entwicklungen gekennzeichnet waren (vgl. Grünewald & Trittelvitz 2020: 12). In Zeiten zunehmender Globalisierung und den sich daraus ergebenen gesellschaftlichen Neuordnungen kommt diese Stabilität jedoch zunehmend abhanden, vielmehr kann ein Kurswechsel hin zu einer „universalen Konsumptionskultur, [in der] […] nationale und regionale Spezifika negiert werden“ (Lillge & Meyer 2008: 17), konstatiert werden. Die industrialisierte Produktion hochverarbeiteter Lebensmittel, deren globale Verbreitung in Fast-Food-Ketten sowie die allgemeine Internationalisierung kultureller Ernährungsphänomene erschweren es zunehmend, Esskulturen als solche zu definieren und voneinander abzugrenzen. Ernährung befindet sich folglich in einem konstanten Wandel, in dem sich „globale und lokale [sowie] gesellschaftliche Konfliktlinien überkreuzen“ (Paulitz & Winter 2019: 331). Ob diese Tendenzen als interkultureller Erfolg und „Entkolonialisierung des Essens“ (Rigby 2008: 333) oder als fortschreitender (Ess-)Kulturverlust einzustufen sind, hängt von der Perspektive ab, aus der die beschriebene Dynamik betrachtet wird.
Kulinarische Aushandlungsprozesse und Identitätskonstruktionen im Beneluxraum
Im Anschluss an die vorangehenden kulturtheoretischen Überlegungen erfolgt nun auf ihrer Basis die Betrachtung der verschiedenen Esskulturen im Beneluxraum.
Esskulturen im Beneluxraumund die Spuren des Kolonialismus
Die niederländische Küche fußt auf der einen Seite auf für Mitteleuropa typischen Lebensmitteln wie Kartoffeln, Gemüsesorten sowie Milch(-produkten) und Fleisch(-erzeugnissen) aus einer landesspezifischen Land- und Viehwirtschaft, woraus sowohl simple als auch gehaltreiche Gerichte kreiert werden. Auf der anderen Seite weist die niederländische Küche intensive Einflüsse aus ihren ehemaligen Kolonien auf, deren kulinarische Güter sie teils in ihre eigene Esskultur integrierte: Aus Niederländisch-Indien (dem heutigen Indonesien) und Surinam wurden „Ingwer, sowohl süß-kandiert als auch als Würzmittel, […], [s]charfe Gewürze, Sojasoße, Currys, gebratener Reis oder Nudeln, asiatische Gerichte wie Nasi Goreng oder die allgegenwärtige Erdnusssoße“ (BZfE 2020: 36) in den Speiseplan integriert, jedoch z. T. insofern modifiziert, als sie dem Geschmack der Bevölkerung angepasst wurden. Dies äußerte sich zumeist in der Reduktion des Schärfegrades (vgl. ebd.). Die intensive (ess-)kulturelle Aneignung der ehemaligen Kolonien ist, mit Ausnahme des bisher genannten Beispiels Großbritannien, „kaum in einer andere Nationalküche Europas“ (ebd.) so eindeutig und identitätsstiftend wie in den Niederlanden. Eine nicht weniger einzigartige Facette der niederländischen Küche verdankt sich dem Einfluss der niederländischen Antillen, denn die Inseln Bonaire, Saba und Sint Eustatius zählen bis heute zu den karibischen Niederlanden. Zugleich sind natürlich auch dort ambige kulinarische Überschneidungen zu verorten (vgl. Finn o. J.: 1, s. a. BZfE 2020: 37), die sich auf den Einfluss der niederländischen Küche auf die dortige Esskultur zurückführen lassen, z. B. durch den Einzug von Weizen und verschiedenen Fleischsorten während der Kolonialisierung.
Belgien zeichnet sich im Hinblick auf seine Kulinarik durch eine große Vielseitigkeit aus und lässt sich ähnlich zur föderalen Struktur des Landes in die flämische, wallonische, Brüsseler und ostbelgische Küche differenzieren, die etwas zur regionalen Identität beiträgt. Fernab der kulinarischen Stereotype wie Fritten, Pralinen, Biere und Waffeln ist die kulinarische Heterogenität des Landes hervorzuheben:
Angesichts dieser Zerrissenheit [i. e. die kulinarische] scheint es schwierig, eine (gesamt-)belgische Ess- und Kochkultur auszumachen […]. Auffällig ist in Belgien die klare Unterscheidung zwischen der Alltagsküche, die eher deftig-bodenständig in den Familien gepflegt wird, und der Gourmetküche vieler hochwertiger Restaurants in allen Landesteilen […]. Die gute Restaurantküche profitiert in Qualität und Kochkultur maßgeblich von der französischen Küche und erfreut sich einer überproportional großen Zahl von Sterneköchen (ebd.: 33).

Zusätzlich zur auffälligen Trennung zwischen der mitteleuropäisch bodenständigen Küche und der haute cuisine[1] – Belgien ist das Land in Mitteleuropa mit der größten Dichte an ausgezeichneten Sterneköch*innen bzw. -restaurants – zeigt sich auch in der aktuellen Küche Belgiens neben ihrer greifbaren Frankophilie ein postkolonialistischer Einfluss, insbesondere ist der der ehemaligen Kolonie Kongo erkennbar (vgl. ebd.: 32). Er hat afrikanische Spuren in die belgische Esskultur eingetragen und prägt sie bis heute sichtbar mit. Doch auch das heute als Königreich Belgien figurierende Territorium war über Jahrhunderte hinweg Teil verschiedener Herrschaftsräume (vgl. ebd.), so z. B. der Spanischen oder Österreichischen Niederlande, wodurch es zum Kreuzpunkt vieler Esskulturen wurde. Zudem muss beachtet werden, dass insbesondere Brüssel durch die Migration aus der ehemaligen Kolonie Kongo geprägt wird, wodurch sich eine sehr multinationale Esskultur ausgeprägt hat.
Bezüglich der luxemburgischen Nationalküche lässt sich anmerken, dass diese, ebenso wie die beiden bereits untersuchten Länder, in großen Teilen auf bodenständigen und simplen Grundnahrungsmitteln basiert, darunter Kartoffeln, erdige Gemüse- und lokale Obstvarianten sowie Fisch und Fleisch. Diese Simplizität, die in ihren Grundzügen große Übereinstimmungen mit traditionellen Lebensmitteln der deutschen Küche aufweist und einen gewissen Esprit der ruralen Bevölkerung bis in die Aktualität aufrechtzuerhalten scheint, erfährt zudem eine sehr deutliche Modifikation durch die Raffinessen der französischen Esskultur. In diesem sowohl historisch als auch geographisch bedingten Spannungsfeld zwischen rustikal-bodenständigen Gerichten und ihrer frankophilen Neuinterpretation ergibt sich eine Genusskultur, mit der sich die Luxemburger*innen identifizieren. Wichtige Elemente dieser kulinarischen Identität sind z. B. neben der Schaumweinproduktion des Crémant de Luxembourg auch das Vorhandensein zahlreicher renommierter Gastronomien, die mit Guide-Michelin-Sternen ausgezeichnet worden sind (vgl. Guide Michelin o. J.). Auch in Luxemburg erwies sich die Migration als konstituierend für die luxemburgische Küche: Insbesondere die intensiven Verflechtungen zwischen Luxemburg und Portugal während des zweiten Weltkrieges, als viele Luxemburger*innen Zuflucht in Portugal fanden, als auch in der Nachkriegszeit, während der zahlreiche portugiesische Arbeiter*innen vor allem ab den 1960er-Jahren nach Luxemburg immigrierten, um dem Salazar-Regime, dem Estado Novo, und der sie prägenden Armut zu entfliehen (vgl. Hartmann-Hirsch & Ametepe 2021: 1, 3), führten zu einer neuen Facette in der luxemburgischen Küche. Neben dem portugiesischen Einfluss gestaltete auch die italienische Arbeitermigration die Esskultur der Luxemburger mit. Ein populäres Beispiel für diese kulinarische Verflechtung ist die italienische Pasta asciutta, die in Luxemburg in die Pastaschutta umgewandelt wurde, indem sie durch das Ergänzen luxemburgischer Grundzutaten wie Fleisch und Zwiebel dem hiesigen Gusto angepasst wurde.
Wie man erkennen kann, teilen die Esskulturen der Benelux-Region auf der einen Seite ihre klassisch mitteleuropäische Lebensmittelbasis, weisen jedoch überdies verschiedene Einflüsse aus fremden Ländern und Kulturen auf, die sich den jeweiligen historischen Koordinaten verdanken. Eine wichtige Ergänzung zu den bisherigen Ausführungen bietet eine interaktive Landkarte. Sie ermöglicht, Nationalgerichte der Benelux-Länder mitsamt ihrer Besonderheiten kennenzulernen. Sie zielt nicht darauf ab, ein umfassendes kulinarisches Panorama des Beneluxraums abzubilden, vielmehr werden hier wichtige Unterschiede und Spezifika visualisiert.
Gemeinsame Beanspruchung von Gerichten: Zeichen einer transnationalen Esskultur?
Nicht nur aufgrund der klimatischen Nähe haben sich im vorherigen Kapitel ähnliche Lebensmittel als Fundament der Benelux-Esskulturen herauskristallisiert, sondern auch aufgrund der historischen Zugehörigkeit zu identischen Kulturräumen. Doch was passiert, wenn ganze Gerichte Teil einer nationalen Kollektividentität sind und zugleich von einem anderen Land als solche beansprucht werden?
Im Falle des Beneluxraums und der an ihm grenzenden Länder ist dies nicht selten der Fall, seien es die Spekulatius in Belgien und den Niederlanden, die Boxemännchen (Stutenkerle) in Luxemburg und Deutschland, die Schnecken (moules à l’escargot) in Belgien und Frankreich oder die Fritten bzw. Pommes frites in Belgien und Frankreich. Zwar gibt es teils hitzige Debatten über den tatsächlichen Ursprung der Gerichte, um diese als Teil der nationalen Identität einzufordern, die sich jedoch sehr schnell vor dem Hintergrund relativieren, dass sich Bestandteile viele dieser Nationalgerichte beim genauen Betrachten bereits als Importe aus ehemaligen Kolonien erweisen. Ein besonders prominentes Beispiel ist die Kartoffel, Grundelement der Fritten bzw. Pommes frites, denn diese stammt ursprünglich aus Südamerika und wurde im 17. Jahrhundert in Europa heimisch.
Ein Abrücken von diesem auf Exklusionsidentität basierenden Fokus verdeutlicht, dass sich gerade an diesen nicht vollends zuordbaren Gerichten zeigt, wie verflochten die Benelux-Esskulturen sind. Grenzen mögen zwar offiziell Länder in Politik, Administration, etc. voneinander trennen, doch die kulinarischen Identitätskonzepte sind insbesondere an nationalen Grenzgebieten fluide. So weist beispielsweise die niederländische Küche in der Nähe ihrer Grenzen zu Ostfriesland, Flandern oder dem Rheinland viele regionale Spezialitäten auf, die ebenso in Belgien und Deutschland bekannt und beliebt sind – sei es die ostfriesische Teekultur, deftige rheinische Gerichte wie Endivienjemangs oder die flämischen Fischgerichte. Es scheint folglich einen Austausch zu geben, der die Beanspruchung oder Zuordnung eines Gerichtes zu einem Land nicht zulässt und auf diese Weise eine gemeinsame transnationale Esskultur mitkonstituiert.
Im Zeitalter sozialer Medien und dem generell stets voranschreitenden Prozess der Globalisierung potenziert sich dieser kulinarische Dialog. Auf der einen Seite wird dadurch womöglich Fremdverständnis gefördert und über kollektive Selbstwahrnehmung reflektiert, auf der anderen Seite mündet die Globalisierung ebenso in einer Verallgemeinerung der kulinarischen Spezifika und zuweilen in einer Verschlechterung des ernährungsphysiologischen Profils der Lebensmittel. Vor allem Fast-Food(-Ketten) stehen in starker Konkurrenz zu traditionellen Gerichten (vgl. BZfE 2020: 43) und verdrängen durch die Beschleunigung des Alltags allmählich die ruhige Tischkultur. Im Falle der niederländischen Küche zeigt sich dies beispielsweise in dem seit einigen Jahrzehnten sehr präsenten Imbiss-Charakter, d. h. dem nahezu ubiquitären Vorhandensein von panierten und/oder frittierten Gerichten „für den schnellen Essgenuss“ (ebd.: 39). In solchen gastronomischen Betrieben werden sowohl Fast-Food-Gerichte wie Pommes Frites (die wiederum aus Belgien stammen) vertrieben, diese jedoch z. T. auch mit typisch-niederländischen Spezialitäten wie der indonesischen Erdnusssoße angeboten, woraus ein neues Gericht entsteht, die sog. Patatoorlog. Dies spiegelt wider, dass sich auch im Beneluxraum die Esskulturen in einem ständigen Wandel befinden, sich von fremden Gerichten inspirieren lassen und daraus neue Kreationen hervorbringen, sogar im globalisierten Fast-Food-Setting.
Zusammenfassung und Ausblick
In der Zusammenschau der im Verlauf dieser Studie untersuchten Aspekte kann abschließend festgestellt werden, dass die Ernährung auf verschiedenen Ebenen einen veritablen Beitrag zu individuellen und kollektiven Identitäten leistet und daher häufig zu einem wirkmächtigen Element nationaler Kulturen avanciert. Im Hinblick der diversifizierten Esskulturen im Beneluxraum hat sich indes erwiesen, dass aufgrund der geschichtlichen Ereignisse, zahlreichen Verflechtungen und geteilten Grenzen keine eindeutigen nationalen Esskulturen identifiziert werden können, sondern vielmehr komplexe kulturelle und kulinarische Überschneidungen vorliegen, die sich in transnationaler und transkultureller Perspektive als ein gemeinsames ernährungsbezogenes Paradigma erschließen.

Der grenzüberschreitende Kulturtransfer in Bezug auf die Verwendung, Verarbeitung und Zubereitung mitteleuropäischer Lebensmittel bereichert insbesondere durch die Integration von Zutaten und Gerichten aus ehemaligen Kolonien sowie deren Modifikation die Esskulturen um eine zusätzliche Facette. Im Zuge der präsenten Debatten über kulturelle Aneignung und der simultanen Globalisierung der Ernährung erweist es sich als bedeutsam, die Fokussierung auf nationale Esskulturen zu überwinden und sich komplexen transnationalen Kulturbeziehungen zu öffnen. In diesem Zusammenhang bietet der Beneluxraum einen vielschichtigen Untersuchungsgegenstand, denn die Analyse kulinarischer Begegnungen und Dialoge leistet einen Beitrag zur kultursensiblen Ernährung. Um in den von Inter- und Transkulturalität geprägten Gesellschaften, die in allen drei Ländern von (Post-)Kolonialismus und Migration bedingt sind, Vorurteile und Stereotype abzubauen, besteht das Desiderat, die Möglichkeiten der kulinarischen Diversität zu nutzen, um darauf aufbauend kulinarische Dialoge zu initiieren, die wiederum neue Gerichte hervorbringen können. Es ist davon auszugehen, dass diese Begegnungen und kulinarischen Prozesse wegen der nicht unproblematischen Konkurrenz von Fast-Food und der globalen Vereinheitlichung der Essgewohnheiten zukünftig eine zentrale Rolle spielen werden, um interkulturelle Sensibilität weiterhin über die Ernährung ausgestalten und fördern zu können.
Quellenverzeichnis
Bundeszentrum für Ernährung (BZfE), Ernährung im Fokus. Zeitschrift für Fach-, Lehr- und Beratungskräfte 1, 2020.
Erchinger, Philipp, „Zwischen Identität und Unterschied: das Leben des Wissens“, in: Cristian Alvarado Leyton und Philipp Erchinger (Hrsg.), Identität und Unterschied. Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz, Bielefeld, 2010, S. 11-33.
Finn, Rachel, Rezension zu: Goucher, Candice, Congotay! Congotay! A Global History of Caribbean Food, Abingdon, Oxon & New York, 2015, 239 S.
Grünewald, Jennifer und Trittelvitz, Anja, „Einleitung. Ich esse, also bin ich“, in: Jennifer Grünewald und Anja Trittelvitz (Hrsg.), Ernährung und Identität, Stuttgart, 2020, S. 9-21.
HARTMANN-HIRSCH, Claudia und AMETEPE, Fofo Senyo, Zwischen Europäisierung und Renationalisierung der Freizügigkeit. Eine Finanzkrisen-bedingte Migration von Portugal nach Luxemburg, Wiesbaden, 2021.
LEMKE, Harald, Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie, Bielefeld, 2016.
Lillge, Claudia und Meyer, Anne-Rose, „Interkulturelle Dimensionen von Mahlzeiten“, in: Claudia Lillge und Anne-Rose Meyer (Hrsg.), Interkulturelle Mahlzeiten. Kulinarische Begegnungen und Kommunikation in der Literatur, Bielefeld, 2008, S. 11-22.
Lillge, Claudia, „»All the world’s a ›kitchen‹«. Arnold Weskers Mahlzeiten oder Kochen im Akkord“, in: Claudia Lillge und Anne-Rose Meyer (Hrsg.), Interkulturelle Mahlzeiten. Kulinarische Begegnungen und Kommunikation in der Literatur, Bielefeld, 2008, S. 297-313.
Ott, Christine, „Ernährung und Identität – ein Forschungsüberblick“, in: Jennifer Grünewald und Anja Trittelvitz (Hrsg.), Ernährung und Identität, Stuttgart, 2020, S. 23-54.
Paulitz, Tanja und Winter, Martin, „Ernährung aus kultursoziologischer Perspektive“, in: Stephan Moebius, Frithjof Nungesser und Katharina Scherke (Hrsg.), Handbuch Kultursoziologie. Band 2. Theorien – Methoden – Felder, Wiesbaden, 2019, S. 319-336.
Rigby, Kate, „(Post-)Koloniale Inkorporierung. Ökologie und Esskultur in Australien“, in: Claudia Lillge und Anne-Rose Meyer (Hrsg.), Interkulturelle Mahlzeiten. Kulinarische Begegnungen und Kommunikation in der Literatur, Bielefeld, 2008, S. 315-335.
Rinderle, Hanna, „Essen als Heimat. Ernährung und Identität in Karen Blixens Den afrikanske Farm“, in: Jennifer Grünewald und Anja Trittelvitz (Hrsg.), Ernährung und Identität, Stuttgart, 2020, S. 133-153.
Tönnies, Merle, „Kulturelle Bedeutungen und Kontexte der indischen Küche in Großbritannien“, in: Claudia Lillge und Anne-Rose Meyer (Hrsg.), Interkulturelle Mahlzeiten. Kulinarische Begegnungen und Kommunikation in der Literatur, Bielefeld, 2008, S. 337-354.
ZIMMERMANN, Klaus, Sprachkontakt, ethnische Identität und Identitätsbeschädigung, Frankfurt am Main, 1992.
Onlinequellen:
DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR ERNÄHRUNG (DGE), „Kultursensible Ernährung“, URL: https://www.dge-niedersachsen.de/kultursensible-ernaehrung/, (22.03.2025).
MICHELIN GUIDE, „Luxembourg“, URL: https://guide.michelin.com/de/de/luxembourg/restaurants/1-star-michelin/2-stars-michelin, (22.03.2025).
[1] Zur weiterführenden Auseinandersetzung mit der belgischen Exzellenzküche verweisen wir auf ein spannendes Video, in dem Schüler*innen der Kochschule RHIZO Kortrijk ihr kulinarisches Talent demonstrieren: o. A., „Dinieren mit Rubens“ [Online-Video], in: BelgienNet (26.08.2021), URL: https://belgien.net/dinieren-mit-rubens/, (22.03.2025).