Am 15. Januar 2025 hatte das Belgienzentrum der Universität Paderborn, vertreten von dem Benelux-Redakteur Vincent Liechty, die besondere Möglichkeit, ein Interview mit Stephane Verwilghen, Rechtsberater des Benelux-Generalsekretariats, über die Beziehungen zwischen der Benelux-Union und der Europäischen Union zu führen und dabei die internationale Verflechtung sowie Vorreiterrolle der Benelux-Staaten in diesem Zusammenhang zu diskutieren.
Zur Person
Stephane Verwilghen wurde 1978 in Dendermonde, Belgien, geboren. 2001 erwarb er einen Master in Rechtswissenschaften (licentiaat in de rechten) mit den Schwerpunkten Europarecht und Völkerrecht. Seit 2013 arbeitet er im Generalsekretariat der Benelux-Union als Rechtsberater. Im Rahmen dieser Tätigkeit spielte er führenden Rollen bei der Aushandlung und dem Abschluss verschiedener Benelux-Verträge, bei der Entstehung zahlreicher Entscheidungen und Empfehlungen des Benelux-Ministerkomitees und bei der Koordinierung der innerhalb der Benelux-Union geltenden Entscheidungsverfahren. Er begann seine berufliche Laufbahn in der Rechtsabteilung des belgischen Außenministeriums (2001-2002) und arbeitete anschließend mehrere Jahre für die Europäische Kommission, insb. zu institutionellen und bereichsübergreifenden Fragen (2002-2009), sowie im Privatsektor als Interessenvertreter bei den EU-Institutionen (2010-2013). Sein berufliches Fachwissen und seine Erfahrung liegen an der Schnittstelle zwischen internationalem Recht, Europarecht und nationalem Recht. Die nachfolgend von Stephane Verwilghen geäußerten Meinungen sind seine eigenen und spiegeln nicht zwangsläufig die Position des Benelux-Generalsekretariats wider. Überdies handelt es sich bei dieser deutschen Fassung um eine Übersetzung des französischen Original-Transkriptes. Eventuelle fachsprachliche Errata sind daher zu entschuldigen.

Die internationale Organisation und Präsenz der Benelux-Union
VL: Wie gestaltet sich konkret die Beziehung zwischen der Benelux-Union und der Europäischen Union? Gibt es formale Mechanismen oder Organe, die diese Beziehung kennzeichnen?
SV: Die europäische Gesetzgebung und Politik sind nahezu allgegenwärtig in unseren verschiedenen Ländern, sei es in den Benelux-Staaten oder darüber hinaus. Es ist daher nur folgerichtig, dass sich die Benelux-Zusammenarbeit in den meisten Fällen – direkt oder indirekt – auf europäische Gesetzgebung oder Politik bezieht. Ich würde sogar behaupten, dass etwa 90 % der Benelux-Zusammenarbeit Berührungspunkte mit der europäischen Gesetzgebung oder Politik aufweist.
In der Regel siedelt sich unsere Zusammenarbeit auf der Ebene der Umsetzung von bereits endgültig verabschiedeten Rechtsakten oder Strategien an, deren Verhandlungen auf europäischer Ebene abgeschlossen wurden. Im Kontext dieser Umsetzung sorgt die Benelux-Zusammenarbeit für eine koordinierte Vorgehensweise, um die grenzüberschreitende Kooperation zu stärken und weitere Hindernisse abzubauen, damit das Leben für unsere Bürger sowie unsere Unternehmen erleichtert wird.
In anderen Fällen besteht ein Bezug zu laufenden Diskussionen oder Verhandlungen innerhalb der europäischen Institutionen, insb. im Rat der Europäischen Union. In solchen Fällen sprechen die Benelux-Staaten häufig mit einer Stimme. Zum Teil ist dies das Ergebnis der Zusammenarbeit innerhalb der Benelux-Union, in der Regel jedoch das Resultat einer ad-hoc- und informellen politischen Kooperation, die ohne Mitwirkung der Institutionen der Benelux-Union stattfindet. Dies erklärt auch, warum es keine formale Struktur gibt, die die Beziehung zwischen der Benelux-Union und der Europäischen Union kennzeichnet.
Informell hingegen ist es durchaus üblich, dass beispielsweise ein Vertreter der Europäischen Kommission als Beobachter an Benelux-Verhandlungen oder an Diskussionen innerhalb der verschiedenen Benelux-Arbeitsgruppen teilnimmt. Dies ermöglicht es der Europäischen Kommission, sich über die Aktivitäten auf Benelux-Ebene zu informieren und diese gegebenenfalls in ihre eigenen Vorhaben einzubeziehen. Gleichzeitig können die Benelux-Staaten die Sichtweise der Europäischen Kommission auf zukünftige Entwicklungen kennenlernen, um gemeinsam in dieselbe Richtung zu steuern. Es besteht also durchaus eine informelle Beziehung, jedoch keine formale Struktur und kein formeller Mechanismus, mit Ausnahme der Ermächtigungsklausel, die in Artikel 350 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union verankert ist. Ich möchte jedoch betonen, dass diese Klausel nur im Falle eines Konflikts zwischen europäischem Recht und Benelux-Recht Anwendung findet – ein Szenario, das recht selten ist, da die Benelux-Zusammenarbeit im Allgemeinen in direkter Verlängerung der europäischen Vorgaben oder Politik stattfindet. In solchen Fällen ist dieser Artikel somit nicht relevant.
VL: 2024 war ein besonderes Jahr, da Belgien sowohl den Vorsitz im Rat der Europäischen Union als auch die Präsidentschaft der Benelux-Union innehatte. Hat diese besondere Konstellation die Interaktion zwischen der Benelux-Union und der Europäischen Union stärken können?
SV: Ich denke, dass diese doppelte belgische Präsidentschaft – einerseits im Rat der Europäischen Union, andererseits im Benelux-Ministerkomitee – sowohl eine Chance als auch eine Herausforderung war.
Die Chance lag meines Erachtens vor allem im Bereich der Kommunikation. Sie bot die Möglichkeit, Ergebnisse aus der Benelux-Zusammenarbeit auf europäischer Ebene sichtbar zu machen. Ein Beispiel dafür ist die von der belgischen EU-Ratspräsidentschaft organisierte Konferenz am 16. Mai 2024 in Rochefort, Belgien, die sich mit pyrotechnischen Artikeln befasste. Diese Veranstaltung bot den Rahmen, um die Fortschritte der Benelux-Zusammenarbeit in diesem Bereich – insb. das sogenannte Pyro-Pass-System – vorzustellen. Der Pyro-Pass ist ein einheitliches Kontrollzertifikat, das im grenzüberschreitenden Kontext überprüft, ob eine Person über die erforderlichen Kenntnisse verfügt, um gefährlichere Feuerwerkskörper zu kaufen, zu verwenden oder zu handhaben. Die Konferenz ermöglichte es, diese Errungenschaft einem breiteren Publikum bekannt zu machen, mit dem Ziel, dass sich weitere EU-Mitgliedstaaten dem System anschließen oder die Europäische Kommission ähnliche Maßnahmen ergreift.
Gleichzeitig brachte die doppelte Präsidentschaft auch Herausforderungen mit sich, insb. bei der Terminplanung. Die Experten, die im Rahmen der Benelux-Zusammenarbeit tätig waren, mussten parallel auch an den entsprechenden europäischen Dossiers arbeiten. Es liegt auf der Hand, dass die europäischen Treffen vorrangig behandelt wurden, da Belgien die EU-Ratspräsidentschaft innehatte. Dies führte dazu, dass sich die Benelux-Zusammenarbeit in einigen Bereichen vor allem auf das zweite Halbjahr 2024 konzentrierte.
Dennoch sollte man die Bedeutung der doppelten Präsidentschaft nicht überschätzen. Letztlich war es ein überwiegend normales Jahr, in dem wir unsere Ergebnisse nahezu wie gewohnt kommunizieren konnten und die Verbindung zur europäischen Ebene genauso wie in anderen Jahren hergestellt wurde.
VL: Konnten während dieser doppelten Präsidentschaft die Werte der Benelux-Union propagiert werden, z. B. die Notwendigkeit der internationalen Zusammenarbeit oder der vertrauensvollen Interaktion?
SV: Meiner Meinung nach hat die doppelte Präsidentschaft in diesem Zusammenhang keinen entscheidenden Unterschied gemacht. Dennoch möchte ich als Beispiel auf das Inkrafttreten eines multilateralen Abkommens hinweisen, das 2021 zwischen den Benelux-Staaten und den baltischen Ländern über die automatische Anerkennung von Hochschulabschlüssen geschlossen wurde. Dieses Abkommen, das 2021 unterzeichnet wurde, trat im Mai 2024 in Kraft und zu diesem Anlass wurde eine Veranstaltung organisiert. Dort waren verschiedene internationale Organisationen vertreten, darunter die Europäische Kommission, die UNESCO und der Europarat; allesamt Akteure, die in diesem Bereich eine wichtige Rolle spielen. Die Einführung dieses Abkommens bot eine echte Gelegenheit, gemeinsame Werte wie gegenseitiges Vertrauen, internationale Zusammenarbeit und die Bedeutung der Mobilität für kommende Generationen in den Vordergrund zu stellen. Es ist möglich, dass die belgische EU-Ratspräsidentschaft zu diesem Zeitpunkt dazu beigetragen hat, die Teilnahme bestimmter Akteure an der Veranstaltung zu erleichtern. Dennoch denke ich, dass der Erfolg dieser Veranstaltung nicht der doppelten Präsidentschaft zuzuschreiben ist.
Chancen und Herausforderungen in der Entwicklung der Benelux-Union mit der Europäischen Union
VL: Gemäß Artikel 350 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union haben im Falle eines Konflikts zwischen den Fortschritten innerhalb der Benelux-Union und den geltenden EU-Vorschriften die betreffenden Benelux-Regeln ggf. Vorrang vor den Regeln der EU. Unter welchen Bedingungen wurde diese Ausnahme eingeführt und inwieweit hat sie bisher eine Rolle gespielt?
SV: Diese Klausel, die derzeit in Artikel 350 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankert ist, war bereits im Vertrag von Rom von 1957 enthalten. Seitdem blieb sie unverändert. Damals wurden die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Benelux-Wirtschaftsunion (damals noch unter dieser Bezeichnung, die heute als Benelux-Union bekannt ist) bewusst parallel gegründet. Die Idee bestand darin, dass die Benelux-Wirtschaftsunion bei der Errichtung des Binnenmarkts wesentlich schneller voranschreiten sollte als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. In der Praxis war dies tatsächlich der Fall: Die drei Benelux-Länder schufen ihren eigenen Binnenmarkt und nahmen damit einen deutlichen Vorsprung vor dem europäischen Binnenmarkt ein.
Dies erklärt, warum Artikel 350 in den europäischen Verträgen verankert wurde. Das Ziel dieser Klausel besteht darin zu verhindern, dass die Anwendung des europäischen Rechts zur Desintegration der Benelux führt oder ihren Weiterentwicklung behindert. Diese Grundidee aus dem Jahr 1957 ist nach wie vor relevant.
Es sei jedoch klargestellt, dass dieser Artikel der Benelux keine uneingeschränkte Handlungsfreiheit einräumt, denn die Benelux kann nicht aus beliebigen Gründen von europäischen Vorschriften abweichen. Die Parameter für eine solche Abweichung wurden durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union präzisiert und lassen sich wie folgt zusammenfassen: Einerseits erlaubt dieser Artikel den Benelux-Ländern, in der Integration weiter voranzuschreiten, jedoch nicht, hinter das Niveau der Europäischen Union zurückzufallen. Andererseits erlaubt er Abweichungen vom europäischen Recht, jedoch nur, wenn diese Abweichungen strikt notwendig sind, um das ordnungsgemäße Funktionieren des entsprechenden Benelux-Regimes zu gewährleisten. Mit anderen Worten: Artikel 350 gestattet keine beliebigen Abweichungen vom europäischen Recht. Es muss ein Element der Verhältnismäßigkeit gegeben sein.
Besonders während der ersten 30 Jahre der europäischen und Benelux-Integration war dieser Artikel von Bedeutung. Tatsächlich findet man in einer Reihe von europäischen Richtlinien und Verordnungen aus dieser Zeit explizite Verweise auf die Benelux, als handle es sich um ein einheitliches Territorium. Damals war dies äußerst relevant, wurde jedoch durch spätere europäische Entwicklungen teilweise relativiert. Nichtsdestotrotz bleibt dieser Artikel auch heute ein wichtiges Instrument, das es der Benelux ermöglicht, seine Rolle als Vorreiter innerhalb der Europäischen Union vollständig auszuspielen. Diese Vorreiterrolle ist zudem als eine der Hauptaufgaben im aktuellen Gründungsvertrag der Benelux-Union (Vertrag vom 17. Juni 2008 zur Gründung der Benelux-Union) verankert.
VL: Wie kann man sich den Rechts- und Gesetzgebungsprozess eines neuen Projektes von der ersten Idee bis zur Umsetzung auf Benelux-Ebene vorstellen und an welchen Stellen spielt z. B. die EU eine Rolle?
SV: Ich arbeite für das Generalsekretariat der Benelux-Union, eine der fünf Institutionen der Benelux-Union, das gleichzeitig den administrativen Kern der Union darstellt. Im Gegensatz zum Benelux-Ministerkomitee oder dem Benelux-Rat ist es die einzige Institution der Benelux-Union in Brüssel, die über ein eigenes Gebäude und einen eigenen Sitz verfügt. Es handelt sich demnach um eine permanente Organisation, die über die letzten Jahrzehnten hinweg ein umfangreiches Netzwerk aufgebaut hat. Dieses Netzwerk umfasst verschiedene nationale, regionale und lokale öffentliche Behörden, politische Entscheidungsträger, Parlamentarier sowie Interessenvertreter aus verschiedenen Wirtschaftssektoren und Akteure der Zivilgesellschaft. Im Rahmen dieses weitreichenden Netzwerks werden wir regelmäßig auf neue Problemstellungen aufmerksam, die beispielsweise in Grenzregionen auftreten oder durch die Existenz von Grenzen zwischen unseren Ländern bedingt sind.
Nachdem wir auf diese neuen Fragestellungen hingewiesen wurden, prüfen wir, ob die Benelux-Zusammenarbeit einen Mehrwert bieten kann. Wenn dies der Fall ist, bemühen wir uns um ein Mandat, um das Thema weiter zu vertiefen. Dieses Mandat wird i. d. R. durch die mehrjährigen gemeinsamen Arbeitsprogramme erteilt, die vom Benelux-Ministerkomitee verabschiedet werden und anschließend in jährliche Pläne überführt werden, die ebenfalls vom Benelux-Ministerkomitee beschlossen werden.
Sobald dieses Mandat erteilt ist, ruft das Generalsekretariat der Benelux-Union die Experten der zuständigen Ministerien der drei Länder zusammen, um zunächst die Frage zu untersuchen, die unterschiedlichen Meinungen einzuholen, mögliche Lösungen in Betracht zu ziehen und zu klären, ob die Benelux-Union den geeigneten Rahmen für diese Lösungen darstellt. Diese Zusammenarbeit erfolgt innerhalb einer Arbeitsgruppe auf administrativer Ebene und erfährt, falls notwendig, strategische oder politische Unterstützung, z. B. durch hochrangige Beamte oder die zuständigen Minister. Je nach dem genauen Inhalt der gewünschten Vereinbarungen können diese ggf. in Form eines rechtlichen Instruments getroffen werden, wobei in diesem Fall ein formelles Genehmigungsverfahren eingeleitet wird. Diese rechtlichen Instrumente können neue Verträge oder neue verbindliche Entscheidungen des Benelux-Ministerkomitees sein.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Generalsekretariat der Benelux-Union zunächst die Herausforderungen erfasst, die innerhalb des Netzwerks, das es pflegt, zu bewältigen sind. Anschließend wird die Frage mit den entsprechenden Experten aus den zuständigen nationalen Verwaltungen vertieft. Auf dieser Grundlage prüfen wir dann, ob Ergebnisse erzielt werden können und ob ggf. die spezifischen rechtlichen Instrumente, über die wir verfügen, einen Mehrwert bieten können.
VL: Die multilaterale Kommunikation zwischen den Parteien spielt folglich eine grundlegende Rolle bzgl. Planung und Durchführung eines neuen Projekts, nicht wahr?
SV: Absolut. Es ist überaus wichtig, sich Zeit für den Dialog und das gegenseitige Verständnis zu nehmen. In der Regel muss man zunächst damit beginnen, sich kennenzulernen und einander zu verstehen, um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Auf der Grundlage dieses Vertrauens können konkrete Ergebnisse erzielt werden. Wenn man beispielsweise eine Gesetzgebung harmonisieren möchte, obwohl jedes Land am Tisch eine völlig unterschiedliche Gesetzgebung hat, muss man zunächst sicherstellen, dass man die gleiche Sprache spricht und die Sensibilitäten des anderen versteht. Auf dieser Grundlage kann man daraufhin beginnen, mögliche Lösungsmöglichkeiten zu identifizieren. An einem gewissen Punkt müssen auch die Verhandlungspartner bereit sein, ihre Komfortzone zu verlassen, um einen Kompromiss zu finden. Dies erfordert ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen und damit auch viel Zeit und Kommunikation.
VL: Die anfängliche Frage zielte auch auf das Szenario ab, wann die EU in diesem Kontext eine Rolle spielen kann. In welchen Fällen liegt dies vor?
SV: Wenn die Einbindung der EU als nützlich erachtet wird, wird alles Notwendige getan, damit die Europäische Kommission die Benelux-Arbeiten verfolgen kann. In mehreren Dossiers gibt es, wie ich bereits erwähnt habe, einen Vertreter der Europäischen Kommission, der als Beobachter an den Diskussionen teilnimmt, und dies trägt maßgeblich dazu bei, Synergien zu schaffen. Dennoch: Wir benötigen keine vorherige Zustimmung der Kommission, um im Rahmen der Benelux-Union zusammenzuarbeiten.
An dieser Stelle gilt es auch zu erwähnen, dass die Europäische Kommission manchmal an Veranstaltungen beteiligt ist, bei denen unsere Endergebnisse präsentiert werden. Gelegentlich erhält sie auch bestimmte Empfehlungen. Diese Interaktion zielt darauf ab, die Europäische Kommission dazu einzuladen, die Ergebnisse der Benelux-Union in ihre eigenen Arbeiten einzubeziehen, stets mit dem Ziel, die europäische Integration zu stärken.
Die Pionierrolle der Benelux-Union für die Europäische Union
VL: Durch diese Vereinbarungen garantiert die EU, dass sie die Entwicklung der Benelux-Staaten nicht behindert, weshalb diese innerhalb der EU weiterhin eine Vorreiterrolle einnehmen. Wurden in der Benelux-Union bereits Projekte in kleinem Maßstab getestet, die aufgrund ihres Erfolgs in großem Maßstab auf EU-Ebene eingeführt wurden?
SV: Definitiv. Was die wirtschaftliche Integration betrifft, so hat die Benelux schon lange vor dem europäischen Binnenmarkt einen eigenen Binnenmarkt geschaffen, und zweifellos haben die verschiedenen Harmonisierungsarbeiten, die zu diesem Zweck unternommen wurden, als Inspirationsquelle für spätere europäische Vorschriften gedient.
Jedoch ist die Schengen-Zusammenarbeit wahrscheinlich das bekannteste Beispiel. Bereits 1960 schlossen die Benelux-Länder ein Abkommen, das die Personenkontrollen an den Binnengrenzen abschaffte und sie durch ein gemeinsames System an den Außengrenzen des Benelux ersetzte. Erst 25 Jahre später wurde das Schengen-Abkommen geschlossen. Damals war es ein Abkommen zwischen den drei Benelux-Ländern, Frankreich und Deutschland. Später traten weitere Mitgliedstaaten bei, und das Abkommen wurde schließlich in den Besitzstand der Europäischen Union aufgenommen. Wenn man den Inhalt des Schengener Abkommens untersucht, insb. die Art und Weise, wie die Texte formuliert sind, wird deutlich, dass die bestehenden Texte des Benelux-Abkommens von 1960 als Grundlage dienten. Dies erklärt auch einige Entscheidungen, die im Kontext von Schengen getroffen wurden, z. B. in Bezug auf die Gültigkeitsdauer von Visa, denn dies basierte auf den Benelux-Erfahrungen.
Ein weiteres Beispiel, das ich anführen möchte, ist sehr rezent. Es mag weniger spektakulär und technischer sein, erscheint mir aber dennoch relevant. Es handelt sich um die sogenannte Transaction Network Analysis (TNA), ein Computersystem, das Unregelmäßigkeiten im steuerlichen Bereich aufdecken kann, insb. in Bezug auf die Mehrwertsteuer im grenzüberschreitenden Kontext. Dieses System wurde innerhalb der Benelux entwickelt bzw. in einer Benelux-Arbeitsgruppe, die sich mit steuerlichen Fragen und der Bekämpfung von Steuerbetrug befasst. Das System war recht erfolgreich und wurde später auf europäischer Ebene übernommen. Heute ist es das Referenzsystem im Rahmen des sogenannten Eurofisc.
Um ein letztes Beispiel für die Rolle der Benelux als Vorreiterin in Europa zu geben, möchte ich auf die vollständig automatische Anerkennung von Hochschulabschlüssen hinweisen. Hierbei handelt es sich um eine Anerkennung, die ohne jedwedes Verfahren vollständig automatisch erfolgt, d. h. eine Anerkennung de iure. Diese wurde 2015 in der Benelux für Bachelor- und Masterabschlüsse und 2018 für Doktortitel sowie sog. Associates Degrees eingeführt. Einige Jahre später schlossen die baltischen Staaten ein sehr ähnliches Abkommen untereinander. Es lag daher auf der Hand, die Kräfte zwischen den baltischen Staaten und den Benelux-Ländern zu bündeln, was zu einem multilateralen Vertrag führte, der anderen Mitgliedstaaten die Möglichkeit zum Beitritt bietet. Wir hoffen, dass dieser Vertrag über die vollständig automatische Anerkennung von Hochschulabschlüssen zu dem wird, was man manchmal als „Schengen des Europäischen Hochschulraums“ bezeichnet. Es handelt sich um eine Zusammenarbeit, die in der Benelux erprobt wurde, erfolgreich war, auf andere Regionen ausgeweitet wurde und nun in einem Vertrag festgelegt ist, der hoffentlich eine maximale Zahl von Mitgliedstaaten umfassen wird – nicht nur aus der Europäischen Union, sondern auch aus dem Europarat.
VL: Inwieweit halten Sie die Möglichkeiten, Erfolge von der Benelux-Union auf die EU zu übertragen, für realistisch und umsetzbar?
SV: Auf jeden Fall besteht das generelle Ziel darin, dass diese Vorreiterprojekte in einem größeren europäischen Rahmen übernommen werden. Ich habe bereits die Konferenz erwähnt, die unter belgischer Präsidentschaft in Rochefort über pyrotechnische Artikel und insb. den Pyro-Pass organisiert wurde. Es ging um ein Thema, das den Benelux-Ländern am Herzen lag, jedoch ließ es der europäische Kontext von vor einigen Jahren nicht zu, auf europäischer Ebene kurzfristig ein einheitliches Kontrolldokument wie den Pyro-Pass zu erstellen. Daher hatten die drei Länder der Benelux-Union beschlossen, in dieser Angelegenheit voranzugehen und zu zeigen, dass ein solches Dokument möglich ist. Wir sind erfreut, festzustellen, dass einige Mitgliedstaaten bereits Interesse gezeigt haben, ebenso wie die Europäische Kommission, die zudem bereits als Beobachter an den Benelux-Verhandlungen beteiligt war. Die Europäische Kommission konnte das Projekt folglich von Anfang an verfolgen und hat nach Erreichung des Ergebnisses erklärt, dieses Ergebnis in Betracht zu ziehen, wenn es um eine zukünftige Überarbeitung der europäischen Richtlinie für pyrotechnische Artikel geht. Es ist zwar nicht garantiert, dass das Pyro-Pass-System in größerem Umfang übernommen wird, aber diese ersten Reaktionen lassen darauf schließen, dass die Benelux-Zusammenarbeit zu Entwicklungen auf europäischer Ebene führen wird.
Ein zweites Beispiel, das ich anführen möchte, betrifft Produkte, die mit Lebensmitteln in Kontakt kommen. Auf europäischer Ebene gibt es einen allgemeinen Rahmen zur Regulierung solcher Produkte sowie spezifische Gesetze zu bestimmten Aspekten, jedoch existiert noch keine spezifische europäische Gesetzgebung für Metall- und Legierungsmaterialien, die mit Lebensmitteln in Kontakt kommen. Der Europarat hat hierzu Empfehlungen formuliert, die die Benelux-Länder beschlossen haben, gemeinsam umzusetzen. Man hoff, dass die rechtliche Harmonisierung, die in diesem Bereich erreicht worden ist, als Inspirationsquelle für eine spezifische europäische Gesetzgebung dienen wird.
Außerdem wurde im Bereich der Produkte, die mit Lebensmitteln in Kontakt kommen, im Dezember 2024 eine neue Benelux-Entscheidung getroffen, die Schutzmaßnahmen gegenüber Blei und Cadmium regelt, die über Keramikgegenständen in Lebensmittel gelangen können. Diese Substanzen unterliegen bereits europäischen Regelungen, aber auf Basis neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse hielten die Benelux-Länder die bestehenden europäischen Regelungen derzeit für unzureichend, um die menschliche Gesundheit angemessen zu schützen. Daher beschlossen sie, strengere Regelungen innerhalb der Benelux anzuwenden. Mehrere Mitgliedstaaten der EU haben diesbezüglich bereits Interesse signalisiert und auch die Europäische Kommission hat diese Entwicklung informell positiv aufgenommen und sieht sie als weiteres Argument, um die europäischen Vorschriften zu aktualisieren.
Abschließend möchte ich den neuen Benelux-Polizeivertrag erwähnen, der 2018 unterzeichnet wurde und Ende 2023 in Kraft trat. Es handelt sich um die ambitionierteste Polizeikooperation innerhalb der Europäischen Union und evtl. sogar weltweit. Dies wird nicht nur von der Benelux-Union selbst so gedeutet, sondern auch im Rahmen einer der jüngsten Schengen-Bewertungen anerkannt. Wir halten es nicht für realistisch, dass diese so ambitionierte Kooperation eins zu eins auf europäischer Ebene übernommen wird. Dennoch sind wir sind der Meinung, dass sie durchaus als Inspirationsquelle dienen kann. Indem sie aufzeigt, was alles möglich ist, wird sie vielleicht neue Türen für Kooperationen auf europäischer Ebene öffnen.